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Dieser Text wurde uns anonym zugeschickt, mit der Bitte ihn zu veröffentlichen.
 

Potentielle Trigger: sexuelle, körperliche, verbale, emotionale Gewalt gegen Kinder und Erwachsene wird erwähnt und beschrieben

Wenn ich nach meinem ersten sexuellen Übergriff gefragt werde erzähle ich immer die Geschichte von der Bushaltestelle auf dem Weg zur Schule. Wie ich völlig erstarrt da sitze, die fremde Hand auf meinem Oberschenkel, die immer weiter hoch wandert. Ich trau mich nicht mich zu bewegen oder zu atmen. Dass das gerade ein sexueller Übergriff ist begreife ich mit 13 Jahren noch nicht, dafür braucht es noch 10 weitere Jahre. Als der Bus endlich kommt springe ich panisch auf, renne hinein in der Hoffnung entkommen zu sein. Bin ich aber nicht. Ich begegne der Person jeden Morgen wieder an der Haltestelle. Die Geschichte wird mich über 20 Jahre begleiten und jedes mal wenn ich in dieser Zeit daran denke überkommt mich wieder das Gefühl mich nicht bewegen zu können, nicht atmen zu können. Dieser Geschichte schreibe ich zu mein Leben ruiniert zu haben. Dass das aber gar nicht der erste Übergriff in meinem Leben war fällt mir immer erst hinterher ein. Die ersten Übergriffe erlebe ich in der Familie. Das Ganze geht über 5 Jahre. Anfangs genieße ich die extra Aufmerksamkeit, da beide Elternteile sonst nicht all zu viel Zeit für mich übrig haben. Später fühlt es sich zunehmend unangenehm an, aber ich mache mit, da ich nicht abweisend sein will. Ich werde für Körperkontakt bezahlt, wir kuscheln nackt. Wenn ich versuche meine Grenzen zu verteidigen werde ich ausgelacht, ich soll mich nicht so haben, werde nachgeäfft, festgehalten. Um zu begreifen, dass das nicht nur grenzwertig ist, sondern weit über ein gesundes Eltern-Kind- Verhältnis hinaus geht, muss ich erst 35 werden. An Übergriffigkeiten bin ich so sehr gewöhnt, dass ich mich bei der ersten Anmache in einem Club, ein Klapps auf den Hintern, geschmeichelt fühle. Der Klapps auf den Hintern wird zum Standard, genauso wie der Griff in den Schritt. Ich denke mir nichts dabei. Ich werde von Betrunkenen angemacht, ungefragt angefasst und geküsst, habe erniedrigenden Sex. Ich versteh das als Kompliment, obwohl ich mich dabei unwohl fühle. Ich halte still, versuche nicht zu atmen. So funktioniert das eben. Wenn wer doch zu aufdringlich wird sag ich, ich müsse Pinkeln und geh stattdessen nach Hause. Dass das sexuelle Übergriffe sind und kein Flirten begreife ich erst mit 35. In einer Beziehung erfahre ich emotionalen Missbrauch. Was das ist wusste ich vorher noch nicht. Wenn ich nicht alles richtig mache werde ich angeschnautzt. Ich fühle mich zum Sex genötigt, um keine schlechte Stimmung aufkommen zu lassen. Ich täusche Orgasmen vor, damit es schneller vorbei geht. Ich gebe mir große Mühe. Wenn ich selbst Bedürfnisse anmelde, mehr Nähe zum Beispiel, wird mit den Augen gerollt. „Wir müssen noch Kuscheln.“ heißt es dann. Ich brauche 3 Jahre um mich aus der Beziehung zu befreien. In einer Beziehung erlebe ich verbale Gewalt und Manipulation. Ich sei zu dumm, werde angeschrien und bedroht. Wenn ich versuche darüber zu reden heißt es, war doch nur ein schlechter Tag. Irgendwann höre ich auf darüber reden zu wollen, um noch mehr Geschrei zu vermeiden. Ich gehe als mein Kind körperlich angegriffen wird. Warum ich gehe wird nicht verstanden, war doch nur ein schlechter Tag. In einer Beziehung erlebe ich häusliche Gewalt, da bin ich schon älter als 35. Ich versuche darüber zu reden. Ich solle doch aus einer Mücke keinen Elefanten machen, ich würde übertreiben, versuchen mein Gegenüber in eine Rolle zu drängen um Macht auszuüben. Dass das Täter-Opfer-Umkehr ist begreife ich. Dass ich das Gespräch und den Kontakt mitten im Satz abbreche wird nicht verstanden. Auf meiner Geburtstagsparty werde ich zum Sex genötigt. Ich bin 38. Ich sage mehrfach deutlich nein, aber werde festgehalten. Um zu begreifen, dass das eine Vergewaltigung war brauche ich diesmal nur 2 Tage und keine 20 Jahre.

 

„Solidarität mit allen Betroffenen!“ ist der Slogan einer FLINTA* Gruppe, die gegen sexuelle Übergriffe kämpft. Irgendwo in ihrem Blog erklären sie in einem 3-Zeiler, dass sexuelle Gewaltauch von Frauen ausgehen kann und auch Männer betroffen sein können. Da das aber so selten ist, wird durchgehend von „Tätern“ gesprochen. Auch in allen anderen Erzählungen sind die Betroffenen eigentlich immer Frauen und die Täter Männer. Ich komme in diesen Erzählungen nicht vor. Bis auf eine Person waren alle „Täter“ FLINTA*. Meine Mutter, Partnerinnen, Freundinnen,
Fremde. Zum anderen bin ich male asigned at birth nonbinary und komme damit eigentlich gar nicht als Betroffen*e in Frage.

 

Bei einem Flirtworkshop sage ich, dass es vermutlich Sinn macht mich bei einem Clubbesuch auch darauf einzustellen, dass ich mit betrunkenen Menschen konfrontiert werde, die vögeln wollen. Darauf entrüstet sich eine Person, wie es sein kann, dass schon wieder Frauen die Verantwortung für die Gewalt zugeschoben wird. Auf die Idee, dass ich tatsächlich über mich spreche, dass ich von Gewalt betroffen sein könnte, dass ich einen Weg suche mich zu schützen, der Gedanke kam der Person gar nicht in den Sinn. Dass die Menschen vor denen ich mich schützen will FLINTA* sind wäre vermutlich völlig absurd erschienen. Irgendwie verständlich, da ich doch selbst auch Jahrzehnte brauchte um zu erkennen, dass ich von sexueller Gewalt betroffen bin. Wie auch, wenn es konsequent unsichtbar gemacht wird, wenn selbst Feminist*innen konsequent nur von „Tätern“ sprechen. Das passiert doch so selten, Einzelfälle, da brauchen wir nicht drüber reden. „Solidarität mit allen Betroffenen“ sieht für mich anders aus. Ich habe mit vielen Menschen darüber gesprochen, die ganz ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Deren Täter*innen ebenso Mütter, Partnerinnen, Arbeitskolleginnen, der One Night Stand von der feministischen Veranstaltung waren. Und alle haben Jahre oder Jahrzehnte gebraucht um zu begreifen, dass das sexuelle Gewalt war, was ihnen passiert ist. Deren Betroffenheit unsichtbar gemacht wird, da immer wieder überall nur von Tätern gesprochen wird.

 

Ich halte mich nun schon seit geraumer Zeit nur noch in feministischen Räumen auf. Die Übergriffe bleiben aber trotzdem nicht aus. Was mich daran aber besonders entsetzt, wenn ich das dann versuche anzusprechen wird meist abwehrend reagiert. Mir wird nicht geglaubt, ich muss mich rechtfertigen. Das könne ja nicht sein, wir sind doch alle Feminist*innen. Bei uns doch nicht. Vermutlich hätte ich nur Pech gehabt. Selbst FLINTA*, die tief im feministischen Diskurs stecken sprechen mir meine Erfahrungen ab. Das ist schließlich die „Solidarität mit Betroffenen“, die ich erlebe. Es geht aber völlig problemlos zusammen, sich als Feminist*in beim Hausplenum für mehr Rechte stark zu machen, beim Abendessen über die neuesten Artikel aus dem Missy Magazin zu diskutieren und sich dann am Lagerfeuer mal wieder einen richtigen Mann zu wünschen. Es geht problemlos zusammen, als Feminist*in Aktionen zum 8. März zu organisieren, bei der Demo mit dabei zu sein und dann am Abend betrunken andere FLINTA* zu vergewaltigen.

 

„Solidarität mit allen Betroffenen!“ Ich weiß nicht wo diese Solidarität ist, wenn die „Täter“ FLINTA* sind. Immer wieder wird „FLINTA* only“ und „queerfreundlich“ gerufen, als wären damit automatisch alle bösen Geister gebannt, als wäre in einem FLINTA* only Space automatisch alles gut. So lang die cis Dudes draußen bleiben gibt es keine Probleme! Don`t get me wrong... ich will mit cis endo Dudes auch nichts zu tun haben, das endet jedes mal in einer Katastrophe. Aber bitte lasst uns aufhören so zu tun, als wäre plötzlich alles gut, nur weil die cis Dudes vor der Tür warten müssen. Lasst uns bitte aufhören das Märchen zu erzählen FLINTA* würden keine Gewalt ausüben. So lange das weiter unsichtbar gemacht wird, sind FLINTA* Spaces keine sicheren Räume und Betroffene bleiben auf der Strecke. Ich weiß, die Feststellung tut weh. Ich würde auch viel lieber an das Märchen glauben, dass FLINTA* Spaces ein Einhorn-Zauberland sind, in dem immer die Sonne scheint und alle glücklich sind. Lasst uns trotzdem darüber sprechen, warum wir selbst Gewalt reproduzieren, statt so tun als wäre das nicht der Fall. Lasst uns Gruppen gründen, um über unsere eigene Täter*innenschaft zu sprechen und daran zu arbeiten. Oder einfach abends wenn wir eh gemeinsam in der Küche sitzen darüber reden. Lasst uns unsere Spaces tatsächlich safe machen, statt einfach FLINTA* only auf den Flyer zu schreiben.

 

Lasst uns tatsächlich solidarisch sein. Mit ALLEN Betroffenen.

 

Noch als kleiner Bonus zum Abschluss: falls du dich irgendwann mal zwischendurch beim Lesen gefragt hast, ob die erwähnten Täter*innen vielleicht male asigned at birth Nonbinaries waren, dann bist du dem alten terf Mythos auf dem Leim gegangen transfeminine Menschen wären nur Dudes die sich in Spaces für Frauen einschleichen wollen. Die Nonbinaries, die mir gegenüber übergriffig wurden waren alle samt female asigned at birth btw. An sich spielt das aber auch eigentlich überhaupt keine Rolle...

SOLIDARITÄT
MIT ALLEN BETROFFENEN

 

SOLIDARITÄT
MIT ALLEN BETROFFENEN

 

SOLIDARITÄT
MIT ALLEN BETROFFENEN
 

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